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Der Lift war eng. Theresa, Luca und Valentina mussten dicht beieinander stehen. Zuerst hatte sie befürchtet, dass man ihr sorgloses Italienisch nicht verstehen würde, aber im Ministerium war sie unerwartet gut zurechtgekommen. Wahrscheinlich schwiegen Valentina und Luca einfach nur gerne.

Sie befanden sich in einem Bürohaus irgendwo in der Nähe des Capitols. Der Lift hielt im vierten Stock. Soweit Theresa wusste, arbeitete die Antimafia über das ganze Land verteilt in lauter kleinen Büros. Dieses hier hatte die Größe einer Arztpraxis und konnte kaum die Zentrale sein.

Als Luca die Eingangstür mit einem Nummerncode öffnete, verstummte im Inneren eine mechanische Schreibmaschine, die man davor bis hinaus in den Flur gehört hatte. Ein älterer Mann sah von seinem Schreibtisch auf und schob seine Brille mit pfirsichgroßen Gläsern hinauf zur Nasenwurzel. Das Neonlicht von der Decke spiegelte sich in den Gläsern und auch auf seinem Kopf, wo das Haar bis auf einen Kranz mit weißen Stoppeln verschwunden war. Er staunte nicht schlecht bei Theresas Anblick, aber so war es ihr seit ihrer Ankunft ergangen. Sie hatte deutliche Anzeichen von Entsetzen an Valentina bemerkt, als sie zum ersten Mal am Gepäckband im Flughafen aufeinandertrafen. Und Valentina war nicht die Letzte gewesen. Auch die Leute im Ministerium hatten sich gefragt, wieso Schweden eine junge Blondine schickte, um nur einige Gedankenschritte später auf die einzig mögliche Antwort zu stoßen. Wen sollte ein Land, wo es nur Blondinen gab, sonst schicken! Während der Konferenz hatte Valentina sie mehrmals gemustert und erst am Ende der Konferenz begriffen, dass es ein Fehler gewesen war, Theresa nach ihrem Äußeren zu beurteilen.

Sie schätzte Valentina auf Ende dreißig und Luca einige Jahre älter.

„Theresa Julander?“, fragte der Glatzkopf. „Das ist schön. Sie sehen genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt habe.“

Sie trat auf ihn zu und streckte ihre Hand aus. Vielleicht war er hier der Chef, auch wenn er wie ein gealterter Dichter aussah, der in seiner Wohnung nur noch auf den rollenden Mittagstisch und den Nobelpreis wartete. Die Unordnung in diesem Raum hatte wirklich Größe, innerlich und vor allem äußerlich. Wo immer man etwas abstellen konnte, wuchsen wackelige Stapel aus Akten, einzelnen Papieren und Büchern. Die schräg hereinfallende Nachmittagssonne ließ den Staub durch die Luft tanzen.

Der Mann erhob sich mit einiger Mühe und brachte das Händeschütteln hinter sich. „Willkommen bei der Analyseeinheit. Fabiano.“

Valentina führte Theresa weiter. Es gab noch zwei weitere Räume, die mehr Ähnlichkeit mit einem echten Büro aufwiesen. Theresa hatte schon befürchtet, dass sich die technische Ausstattung der Antimafia mit der klappernden Schreibmaschine auf Fabianos Schreibtisch erschöpfte.

Valentina schwang ihre Jacke über die Lehne und lotse sie wieder hinüber zu Fabiano. Luca hatte Kaffee gekocht und Stühle um Fabianos Schreibtisch gestellt. Es verging eine ganze Weile, bis jemand etwas sagte. Fabiano, der als Zentrum des Geschehens auf seinem Platz saß, zog ein Papier hervor und betrachtete es.

„Ihre Kollegen in Schweden haben mir dieses Bild zugeschickt.“

Theresa wunderte sich, wie er in diesem antiquierten Büro an einen Farbausdruck gekommen war. Das Bild stammte aus dem Hofprotokoll, das Barbro gestern aufgetrieben hatte. Es zeigte Maero beim König. Am rechten Bildrand sah man das Profil der jungen Frau.

„Die Signorina bereitet mir Sorgen.“

Fabiano nahm ein langes Biskuit vom Teller. Valentina nutzte die Pause, um Fabiano von Theresas Heldenfrage an den Staatssekretär und den Capito der Staatspolizei zu erzählen.

Fabiano knabberte zaghaft aber schnell. Er lächelte. „Eine tüchtige und kluge Frage, aber die Antwort …!“

„… bereitet Ihnen auch Sorgen?“

„Bereitet mir auch Sorgen, ja. Die Vorfälle haben die italienischen und schwedischen Behörden in Aufregung versetzt. Nun erfahre ich heute Morgen, dass in Schweden die Ermittlungen eingestellt wurden. Was soll das bedeuten?“

„Eingestellt?“

„Ist das nicht interessant? Allerdings nicht auf Wunsch der italienischen Regierung. Für die würde ich natürlich jederzeit meine Hand ins Feuer legen.“

„Was bedeutet das?“

„Sie haben sich an uns gewandt, weil Sie glauben, dass die Lösung dieses wunderbaren Rätsels hier bei uns liegt.“

„Alle Beteiligten sind schließlich Italiener.“

„Dennoch!“ Fabiano spreizte mahnend seinen Zeigefinger ab. Man sah ihm die Freude am gemeinsamen Grübeln deutlich an. „Die Beteiligten, wie Sie all die Leichen nennen, sind Italiener, aber nicht der Ort. Und vor allem, auch nicht der Anlass!“

Theresa richtete sich auf ihrem Stuhl auf. „Es geht also nicht um eine Mafiasache? Kann ich einen Keks haben?“

„Ja, bitte. Mit der Mafia ist es so eine Sache. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Diese etwas theatralischen Symbole und Rituale, mit der sie ihrer Schäbigkeit das Air von Kultur geben möchten.“

Fabiano wartet ganz sicher auf den Nobelpreis, dachte Theresa.

„Was die bedeutenden Organisationen angeht, bei ihnen hat nichts Ähnlichkeit mit diesem Fall. Und das andere, na ja, das sind oft Vendettas zwischen Familien. Solche Streitigkeiten sind weder in Fabia Ternis noch in Botschafter Maeros Heimat in irgendeiner Form belegt. Sie sind dort unüblich. Die Menschen in der Toskana lösen alles pragmatisch, meist mit einem Schraubenschlüssel, das Ritual ist nicht ihre Natur. Mein ganzer Kummer rührt daher, dass ich noch von keinem einzigen Detail dieser Sache je gehört habe. Und auch die Personen scheinen völlig unverdächtig.“

„Sie meinen den Botschafter und Fabia Terni?“ Theresa deutete auf das Bild.

„Das ist nicht Fabia Terni. Sie kann es nicht sein. Fabia Terni war bereits zweiundzwanzig Jahre alt, als dieses Bild entstand, und sie befand sich damals in der italienischen Botschaft in Kenia.“

„Haben Sie das nachgeprüft?“

Valentina räusperte sich. „Auf die Minute genau.“

Fabiano vertiefte sich für die Länge zweier Biskuits noch einmal in das Bild. „Dennoch, die Ähnlichkeit verblüfft, und niemand im Ministerium hat eine Erklärung, wer diese Frau auf dem Bild nur sein könnte.“

„Weiß der schwedische Geheimdienst denn nicht, wen er zum König vorgelassen hat?“, wunderte sich Valentina.

Theresa schüttelte den Kopf. „Nein, sie wissen es nicht. Sie ist einfach mitgekommen. Wenn sie Fabia so ähnlich sieht, dann ist das vielleicht kein Zufall.“

„Fabia Terni stammt aus einem kleinen Dort auf den Hügeln hinter Tarquinia. Sie ist Einzelkind. Ob sie eine Cousine hat, wissen wir nicht.“

„Vielleicht sollten wir es herausfinden.“

„Das können Sie gerne tun“, sagte Fabiano. „Valentina und Luca bringen Sie dorthin. Aber erwarten Sie sich nicht zuviel davon. Fabia Terni ist bei ihrem Eintritt in den diplomatischen Dienst genau überprüft worden, ebenso wie Massimo Maero.“

Theresa hatte eine letzte Trumpfkarte mit auf den Weg bekommen. Für den Fall der Fälle. „Fabia Terni trug dies hier bei ihrem Tod bei sich. In einem gefälschten diplomatischen Kuvert.“

Fabiano nahm das Faksimile des Kryptos entgegen und studierte es. Theresa berichtete, was man in Stockholm über das Krypto herausgefunden hatte.

Fabiano reagierte gelassen. „Ich kümmere mich darum.“

„Was haben Sie vor?“

„Na ja, vielleicht kenne ich jemanden. Man weiß nie.“

03 - Der kopflose Engel
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